Zum Tod von Herrn Professor Jürgen Schieferdecker – Annäherungen an eine herausragende Persönlichkeit
Der Zeit ihre Kunst, der Kunst ihre Freiheit.
Gustav Klimt
Ein Nachruf von Professor Dr. Lothar Ungerer, Bürgermeister der Stadt Meerane.
Professor Jürgen Schieferdecker, am 23. November 1937 in Meerane geboren, absolvierte 1955 sein Abitur an der Meeraner Goetheschule, wechselte zum Studium nach Dresden und ist bis zu seinem Tod am 3. Dezember 2018 Dresdner geblieben.
Seiner Heimatstadt Meerane blieb er stets eng verbunden. Eine größere Sammlung seiner Werke überreichte er zu verschiedenen Anlässen als Stiftung an die Stadt Meerane. Zu seiner ersten Stiftung im Jahr 2001 gehörten Gouachen, Grafiken und plastische Objekte; 2009 und 2012 übergab Jürgen Schieferdecker der Stadt weitere zahlreiche Grafiken. Dabei war es stets Ansinnen des Künstlers und auch der Stadt Meerane, diese Arbeiten der Öffentlichkeit dauerhaft zugänglich zu machen. Dazu Professor Jürgen Schieferdecker:
„Das ist der eigentliche Sinn meiner künstlerischen Arbeit, dass ich wirken will in meiner Zeit!“
Professor Jürgen Schieferdecker wirkte vielfältig in seiner Zeit: Als Maler, Grafiker, Objektkünstler, Architekt und Hochschullehrer. Als Mitbegründer und langjähriger Vorsitzender des Künstlerbundes Dresden e. V. sowie Kultursenator des Freistaates Sachsen.
Sein Wirken wurde vielfach ausgezeichnet. Er erhielt u. a. 1979 den Preis des Museums of Modern Art Tokyo für die Foto-Lithografie „Beuys macht Licht“ und 1981 den Förderpreis der II. Europäischen Biennale Baden-Baden. Am 12. März 2018 ernannte ihn die Stadt Dresden zum diesjährigen Träger des Kunstpreises der Landeshauptstadt Dresden. Dieser renommierte Kunstpreis wird an Künstler mit anerkanntem künstlerischem Werk verliehen, die in Dresden einen Schwerpunkt ihrer künstlerischen Arbeit haben oder deren Werk von großer Bedeutung für die Stadt ist.
Eine Ehrung der besonderen Art war seine Einbindung in die 2017/2018er Ausstellung „Hinter der Maske. Künstler in der DDR“ des Potsdamer Museums Barberini. Sie widmete sich der Inszenierung des Künstlerindividuums von 1945 bis 1989. Das Thema wurde durch vier Generationen in Gemälden, Photographie, Graphik, Collage, Skulptur und Aktionen vorgestellt. Deutlich wurde, dass die Kunst nicht in ideologischen Zuschreibungen aufgeht.
Mit dieser Ausstellung begann das Museum Barberini die Erforschung seiner Sammlung zur Kunst in der DDR, die in der Kunstgeschichte immer noch wenig beachtet ist. Ausgehend vom eigenen Bestand versammelte sie 120 Werke von 80 Künstlerinnen und Künstlern. Mit dabei Professor Jürgen Schieferdecker. Er stand – wie alle Künstlerinnen und Künstler in der DDR – im Spannungsfeld von Rollenbild und Rückzug, verordnetem Kollektivismus und schöpferischer Individualität.
Nach dem Mauerfall 1989/90 begann in Deutschland eine Auseinandersetzung über die Frage, welche Rolle Künstler eigentlich in der DDR hatten. Wie unabhängig, wie interessant und damit wie wertvoll ihre Werke überhaupt seien. Die Debatte bekam den Namen "Bilderstreit" – und was davon bis heute geblieben ist, sind Verkrampfungen und Kränkungen. Der Maler Georg Baselitz, einst aus der DDR in die Bundesrepublik gezogen, nannte Ost-Künstler pauschal "Arschlöcher". Solche Äußerungen schmerzen viele, bis heute. Wir wissen, dass Kunst in der DDR mit Repressionen zu kämpfen hatte. Einen freien Kunstmarkt gab es nicht. Der Staat vergab Aufträge, finanzierte Einkommen und Ateliers. Und stülpte der Kunst eine staatstragende Bedeutung über.
Wir wissen, dass es Staatskunst gab, wie oppositionelle Kunst.
Die Potsdam-Ausstellung setzte hier an und schärfte den Blick auf die Kunst. Die Einbindung des Schieferdecker Werkes „Das Lächeln der Mona Lisa oder Kann Hoffnung scheitern?“ in die Ausstellung würdigten die Dresdner Neuesten Nachrichten am 31.10.2017: „Und Jürgen Schieferdecker, der vitale Experimentator und Grenzüberschreiter, greift in seinem Triptychon „Das Lächeln der Mona Lisa oder Kann Hoffnung scheitern?“ (1976/77) gleich auf zwei Pretiosen zurück – auf Caspar David Friedrichs „Das Eismeer“ (1823/24) und Leonardo da Vincis „Mona Lisa“ (1503) – und zeigt nebenher zugleich in der gewählten Form der Assemblage, dass auch der Surrealismus eine Kraftquelle der unabhängigen „Dresdner Kunstausübung“ (Thomas Rosenlöcher) darstellte.“
Für Professor Jürgen Schieferdecker war Kunst stets ein Teil unserer Kultur der Freiheit. Er wandte sich in der DDR gegen eine Bevormundung als Künstler und forderte die Akzeptanz moderner künstlerischer Gestaltungsmittel ein. Damit lebte er einen mutigen Freiheitsansatz, den der Bildhauer Fritz Cremer (1906-1993) auf dem 5. Verbandskongress des Verbandes Bildender Künstler Deutschlands 1964 in einer Rede zur Entstalinisierung des gesamten Kunstsystems artikulierte. Cremer mahnte zur "Abschaffung des dogmatischen Teufels“ und einer „Theorie der Dummheit“, denn Kunst solle den Menschen "zum Denken veranlassen“. Es entwickelten sich Kunsträume in der DDR, die nicht unter der Direktive der SED, gleichwohl aber unter ständigem Verdacht der Subversion und oftmaliger Beobachtung der Staatssicherheit standen. Diese Kunsträume ermöglichten die Selbstbehauptung der Künstler in der DDR. So auch für Professor Jürgen Schieferdecker, der als staatskritisch galt. Seine Selbstbehauptung kommt in meiner Wahrnehmung mit einem einfachen Satz zum Ausdruck:
Mit offenen Augen den klaren Blick schärfen.
Und nach 1989/1990? Deutschland ist als Nation eine Kulturnation mit großen Kunstwerken in der Vergangenheit. Die zeitgenössische Kunst und Kultur nimmt heute politisch Stellung, sie ehrt damit die Freiheit in der Demokratie und deren Autorität. Professor Jürgen Schieferdecker lebte diese Autorität. Mit seiner zeitgenössischen Kunst in der Zeit und über die Zeiten wirkte er als Frondeur, als konkreter Utopist sowie als kreativer Kritiker. Professor Jürgen Schieferdecker sagte von sich selbst: "Ich bin nun mal ein politischer Künstler." Er blieb hartnäckig in seinem Anspruch auf Utopie. Und so ist es schon fast selbstverständlich, dass er sich auch nach 1989/1990 "weiter auf Angriff..." orientierte.
Professor Jürgen Schieferdecker wusste um die Kompliziertheit der modernen Welt, in der sich vieles nicht mehr so wie früher von selbst versteht. In dem Maße, wie die Kompliziertheit der Gesellschaften wächst, wächst z. B. auch das moralische Wertegefüge, in das sich der einzelne Mensch einbinden soll. Es entsteht eine Unübersichtlichkeit, die Suchbewegungen zur Folge hat.
Jürgen Schieferdecker gab und gibt mit seiner Kunst Wegmarkierungen, die dem Betrachter auch die Kompliziertheit pointiert erhellt, Erkenntnisprozesse auslöst und Suchbewegungen erleichtert. Es ist eine Kunst ohne Illusionen. Für ihn gab es keine Regeln. Er lebte die Erkenntnis, dass nur dann, wenn man seine eigene Identität wirklich behauptet, das eigene Medium den Charakter eines Stils annimmt.
Sein Schaffen verkörperte den Grundgedanken Friedrich Hegels: Freiheit ist Einsicht in die Notwendigkeit. Ich habe diesen Gedanken ausgewählt, weil es dazu einen Aufsatz von Robert Havemann aus dem Jahre 1975 gibt. Havemann (1910–1982) Chemiker und Philosoph, 1976-1979 in der DDR mit Hausarrest versehen, 1989 rehabilitiert – formuliert darin das Leitmotiv des DDR-Staats-Marxismus: „Die Freiheit (des Staates) erfordert Einsicht in die Notwendigkeit der Unfreiheit (des Individuums).“ Er kommt in der Folge zum Ergebnis: „Was jedoch im Sozialismus zur Notwendigkeit geworden ist wie nie zuvor, ist Freiheit.“
In diesem Sinne verwirklichte sich für den Künstler Schieferdecker Freiheit zweifach:
Wovon bin ich frei? Und: Wozu bin ich frei? Davon erzählen vor allem seine Objekte und Grafiken.
1993 formulierte Harald Kretzschmar über Schieferdecker: „Er hat weitergemacht – nicht so, als ob nichts passiert wäre, sondern gerade so, weil es passiert ist. Der Untergang der DDR, ein auch von ihm nicht vorhersehbares Ereignis, war eine Konsequenz von Erscheinungen, die Jürgen Schieferdecker bereits in den siebziger und achtziger Jahren zum Gegenstand seiner Kunst gemacht hatte: Autoritäre Inkompetenz und Umweltruin, blinde Ignoranz und Endzeitstimmung.“ Ich füge hinzu: Unfreiheit eben.
Der Gedanke Gustav Klimts „Der Zeit ihre Kunst, der Kunst ihre Freiheit.“ ist für Professor Jürgen Schieferdecker stilbildend (auch im ästhetischen Sinne). „Der Stil (ruht) auf den tiefsten Grundfesten der Erkenntnis, auf dem Wesen der Dinge, insofern es uns erlaubt ist, es in sichtbaren und greiflichen Gestalten zu erkennen.“ So hat Johann Wolfgang von Goethe einmal Stil definiert. Mit Stilfragen bewegt man sich somit nicht nur in der Sphäre des individuellen und kollektiven Geschmacks. Und Stillosigkeit bezeichnet mehr als den Vorwurf ästhetischer Degoutanz. Für Professor Jürgen Schieferdecker ging es nicht allein um Formfragen; es ging ihm in seiner Kunst – wie auch in der Politik – um Substantielles. Mit seinen hohen ästhetischen künstlerischen Stilbrüchen, den demonstrativen Verletzungen formeller und informeller Regeln, sicherte er sich das Besondere, das uns Betrachter zum Nachdenken, aber auch zum Schmunzeln führt. Er füllte den Freiheitsraum aus, der für die Lebensfähigkeit freiheitlicher Systeme notwendig ist. Er wird uns fehlen.
Die Stadt Meerane dankt Professor Jürgen Schieferdecker für seine Werk-Schenkungen, die in der Galerie ART IN des Meeraner Kunstvereins, im Neuen Rathaus und in der Tännichtschule Oberschule sichtbar sind.
Jürgen Schieferdecker hat sich um seine Heimatstadt verdient gemacht.