Kalenderblatt zum 8. Mai 1945 - von Bürgermeister Professor Dr. Lothar Ungerer
Die sechs Kriegsjahre 1939 bis 1945 können nicht von den vorangegangenen sechs Jahren der nationalsozialistischen Diktatur getrennt betrachtet werden. Die nationalsozialistische Ideologie und die Politik Adolf Hitlers belegen, dass sie zielsicher in den Krieg führten. Die Lithographie von A. Paul Weber „Deutsches Verhängnis“ aus dem Jahr 1932 veranschaulicht diesen Sachverhalt in unübertroffener Deutlichkeit. Es zeigt die drohende Katastrophe unter dem Zeichen des Hakenkreuzes.
Der Angriffskrieg des nationalsozialistischen Deutschlands gegen Polen im Jahre 1939 steht für den Beginn des Zweiten Weltkrieges, mit dem Deutschland sich selbst und ganz Europa ins Elend stürzte. Mit diesem Angriffskrieg verwirklichte die nationalsozialistische Diktatur und Gewaltpolitik im Namen der „Volksgemeinschaft“ ihre radikalen Ziele.
Die eingetretene Katastrophe endete im Mai 1945. Schlüsseldaten:
23. April 1945: Adolf Hitler bestimmt im Falle seines Todes Großadmiral Karl Dönitz zum Reichspräsidenten und Oberbefehlshaber
30. April: Adolf Hitler begeht Selbstmord
1./2. Mai 1945: Neue Reichsregierung unter Großadmiral Dönitz
4. Mai 1945: Unterzeichnung der Kapitulation der deutschen Streitkräfte in Holland, Nordwestdeutschland, Dänemark und Norwegen durch Admiral Hans-Georg von Friedeburg in Lüneburg
7. Mai 1945: Unterzeichnung der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht durch Generaloberst Alfred Jodl in Reims:
„Der Unterzeichnete, handelnd im Namen des deutschen Oberkommandos, erklärt hiermit die bedingungslose Kapitulation aller Streitkräfte zu Lande, zu Wasser und in der Luft, welche sich in diesem Augenblick unter deutscher Kontrolle befinden.“
8. Mai 1945: Wiederholung des Kapitulationsakts durch Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, Admiral Hans-Georg von Friedeburg und Generaloberst Hans-Jürgen Stumpff in Berlin-Karlshorst
9. Mai 1945: An allen Fronten trat die Kapitulation am 9. Mai um 00.01 Uhr in Kraft. Der Krieg war zu Ende.
23. Mai 1945: Absetzung und Verhaftung der Regierung Dönitz in Flensburg durch die Besatzungsmächte. Deutschland war zu Ende. Die Alliierten üben die staatliche Macht in Deutschland aus. Am 5. Juni erfolgte die formale Übernahme der obersten Gewalt in Deutschland durch die Besatzungsmächte.
Ende des Krieges
Die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht am 7. und 8. Mai folgte der totalen Niederlage Deutschlands in einem Krieg, der von ungeheurer Gewalt und Zerstörung geprägt war. Vor 75 Jahren fand der Zweite Weltkrieg in Europa seinen symbolischen Schlussakt, nach fürchterlichen 2.077 Kriegstagen.
Vorbei war das sinnlose Sterben, die nächtelangen Ängste in stickigen Bunkern, das ohnmächtige Miterlebenmüssen der Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes – Verbrechen, deren ganzes Ausmaß erst nach und nach bekannt wurde.
Das Gedicht von Ernst Jandl „markierung einer wende“ bringt grafisch und sprachlich zum Ausdruck, welch fundamentaler Einschnitt das europäische Ende des Zweiten Weltkrieges ist.
1944 1945
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Es starben 55 Millionen Menschen in den Kriegsjahren 1939 bis 1945 direkt und indirekt an den Folgen der Kämpfe. Hitlers Krieg kostete in Deutschland 6.355.000 Deutsche das Leben, aufgeteilt in 1.170.000 Zivilisten und 5.185.000 Soldaten. Der Anteil der Toten an der Gesamtbevölkerung betrug 9,2 Prozent (gemessen an der Bevölkerungszahl von 69.314.000 Einwohnern zu Kriegsbeginn 1939).
Ergebnis einer Politik, die 13 Jahre zuvor begann. 1932 erhielt am 6.11. die systemfeindliche Partei der Weimarer Demokratie, die NSDAP 33,1 Prozent. Es zeigte das gesunkene Vertrauen der Deutschen in die Problemlösefähigkeit der systemtragenden Parteien. Nach der Ernennung Adolfs Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 begann die formaldemokratische Machtübertragung an die NSDAP und die Errichtung einer Diktatur mit Völkermord und Krieg auf Grundlage ihrer Rassenideologie und ihres totalitären Anspruchs.
Die Schlagwörter „Du bist nichts, dein Volk ist alles.“ und „Führer befiehl, wir folgen.“ dokumentieren die Nichtachtung der eigenen Person und deren restloses Aufgehen in einem höheren Wesen, zu dem das deutsche Volk verklärt wurde.
Die totale Unterwerfung unter den Willen eines Mannes und das Bekenntnis zu absoluter Gefolgschaftstreue ist Teil der Menschenverachtung Adolf Hitlers, die bis zum Ende anhielt: Am 19. März 1945 ordnete er die Zerstörung Deutschlands an („Verbrannte-Erde-Befehl“). Gegenüber Albert Speer rechtfertigte er diesen Befehl:
„Es ist nicht notwendig, auf die Grundlagen, die das Volk zu seinem primitivsten Weiterleben braucht, Rücksicht zu nehmen – denn das Volk hat sich als das schwächere erwiesen.“
Ende und Anfang zugleich
„Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.",
so Bundespräsident Richard von Weizsäcker vor 35 Jahren, am 8. Mai 1985. Dieser Gedanke hat immer noch große Bedeutung für die deutsche Erinnerung an das Ende des Zweiten Weltkrieges.
Bundestagspräsident Norbert Lammert vertiefte vor 5 Jahren, am 8. Mai 2015, den Gedanken der Befreiung, der ja Folge der deutschen Kriegsniederlage war:
„Gerade weil der 8. Mai kein Tag der deutschen Selbstbefreiung war, wurde die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit zum schmerzhaften Prozess der inneren Befreiung – nicht etwa, um sich frei zu machen von der Geschichte, im Gegenteil: um sich dieser Geschichte zu stellen, selbst da und gerade da, wo das nur schwer auszuhalten ist. Nur im Bewusstsein unserer bitteren Erfahrungen – davon sind wir überzeugt – können wir Gegenwart und Zukunft politisch verantwortungsvoll gestalten, der Freiheit und dem Frieden in der Welt dienen.“
Beide Wahrnehmungen und Einsichten verbinden sich in der Erkenntnis, dass der 8. Mai Ende und Anfang zugleich gewesen ist. Er wirkte befreiend, weil erst das Kriegsende einen Neubeginn ermöglichte, neue Handlungsfreiheiten schuf, um die Zukunft anders und besser zu gestalten.
Ende und Anfang in Meerane
Am 13. April 1945 kam es zu einem massiven Vorstoß einer Panzerspitze der 4. US-Panzerdivision über die Autobahn von Gera über Meerane, Glauchau bis in den Raum Hohenstein-Ernstthal. Die 4. US-Panzerdivision war Teil der 3. US-Army, die Anfang April 1945 ca. 313.000 Soldaten zählte, unter der Führung Generals George Smith Patton.
Die einzigen Kämpfe in unserem Raum gab es am 13. April 1945 an der Autobahn auf Höhe Waldsachsen zwischen den amerikanischen und deutschen Truppen. Drei deutsche, zunächst unbekannte Soldaten, kamen dabei ums Leben. Waldsachsener Bürger bargen die Toten und begruben sie auf dem Friedhof Waldsachsen. Die Grabpflege übernahm freiwillig in den Folgejahren das Waldsachsener Ehepaar Lampert. Nach dem Tod ihres Mannes kümmerte sich Frau Dora Lampert allein um die Pflege. Unterstützt wurde sie von den Frauen der Kirchgemeinde Waldsachsen. Frau Dora Lampert (1920-2009) wurde zum Neujahrsempfang der Stadt Meerane im Jahre 2002 für dieses freiwillige Engagement mit der Bürgermedaille 2001 der Stadt Meerane ausgezeichnet. Sie war die erste Preisträgerin.
Die Stadt Meerane wurde nach dem erfolgreichen Durchbruch der US-Panzerdivision am 14. April 1945 gegen 16:00 Uhr von amerikanischen Truppen besetzt und ab dem 15. April kontrolliert. Kampfhandlungen blieben im Stadtgebiet glücklicherweise aus. Dennoch war die Situation in der Stadt sehr angespannt, da es neun Lazarette gab und rund 10.000 Flüchtlinge beherbergt wurden. Insgesamt lebten in diesen April/Mai-Tagen 1945 rund 29.000 Menschen in Meerane.
Ab dem 2. Mai 1945 durften die in Meerane festgehaltenen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter in ihre Heimat reisen; viele von ihnen kamen aus Frankreich, den Niederlanden, Belgien, Polen, Russland und Italien.
Meerane betrauert zu Kriegsende – nach derzeitigem Stand – 919 Kriegssterbefälle. Sie sind in den Archiven der Stadt Meerane für die Kriegsjahre 1939-1945 namentlich dokumentiert.
Der Anteil der Toten an der Gesamtbevölkerung betrug demnach 3,6 Prozent (gemessen an der Bevölkerungszahl von 25.000 Einwohnern zu Kriegsbeginn 1939).
Für die Gemeinde Waldsachsen sind 16 Kriegssterbefälle namentlich bekannt.
Die Toten sind Kriegsteilnehmer aller Armeeeinheiten; ihre Todesursache vielfältig: bei Kriegshandlungen gefallen, ihren Verwundungen und Verletzungen erlegen, durch Freitod gestorben, bei Unfällen ums Leben gekommen, Krankheiten erlegen. Zu den Toten zählen auch 19 zivile Bürgerinnen und Bürger, die durch einen Bombenabwurf in der Nacht vom 13. zum 14. Februar 1945 verschüttet und verstorben sind (Bereich Johannis-/Karolinenstraße/Merzenberg).
Künftig soll eine Tafel mit den Namen aller Toten an ihr Schicksal erinnern. Ihre Namen sollen nicht vergessen werden.
Das Schicksal der Toten des Krieges und der Gewaltherrschaft mahnt uns:
„Sieh hin, und du weißt!“,
wie der Philosoph Hans Jonas schreibt. Wer weiß, wie es wirklich gewesen ist, der findet auch den Weg zu dem, wie es sein soll. Und das bedeutete damals wie heute: Wir müssen immer und überall für Frieden, Freiheit, Recht und Würde des einzelnen Menschen eintreten. Denn Freiheit, Recht und Menschenwürde sind die Zeichen der Demokratie.
Lang war der Schatten des 8. Mai 1945. Er dauerte 45 Jahre, nachdem sich 1990 am 3. Oktober die Einheit Deutschlands vollzogen hatte.
Als am 23. August 1990 die DDR-Volkskammer den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland mit Wirkung vom 3. Oktober 1990 beschloss, war die staatliche Einheit vollzogen. Die Volkskammer ging davon aus, dass bis dahin der „Zwei-plus-Vier-Vertrag“ abgeschlossen sei. Dieser wurde am 12. September 1990 von den zwei deutschen Staaten und den vier Siegermächten des Zweiten Weltkrieges in Moskau von den Staatenvertretern Genscher (BRD), de Maizière (DDR), Baker (USA), Schewardnadse (Sowjetunion), Hurd (Großbritannien) und Dumas (Frankreich) unterzeichnet.
Der „Zwei-plus-Vier-Vertrag“ (Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland) hat den Stellenwert eines Ersatz-Friedensvertrages zum Ende des Zweiten Weltkrieges, der am 8. Mai 1945 mit der Kapitulation des nationalsozialistischen Deutschlands als Waffenstillstand endete. In dem Vertrag beendigten nun die vier Siegermächte nach 45 Jahren ihre Verantwortlichkeiten auf Berlin und Deutschland als Ganzes.
Das vereinte Deutschland bekam seine volle Souveränität. Da der Vertrag erst später in Kraft trat (15. März 1991), erklärten die vier Siegermächte am 1. Oktober 1990 in New York, dass sie ihre alliierten Vorbehaltsrechte und Verantwortlichkeiten bereits mit dem 3. Oktober 1990 aussetzen und damit Deutschland vorab die volle Souveränität zubilligen. Der 3. Oktober ist als Nationalfeiertag und als Tag der Deutschen Einheit Ausdruck dieser Staatswerdung. Grundlage bildete das Grundgesetz.
Am 8. Mai 1949 verabschiedete der Parlamentarische Rat das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, die verfassungsrechtliche und staatsrechtliche Basis für die Gründung der neuen Bundesrepublik Deutschland. Es musste noch durch die Länderparlamente und die Militärgouverneure der Westzonen bestätigt und genehmigt werden.
Der Parlamentarische Rat war eine von den Länderparlamenten der drei Westzonen gewählte Versammlung, die von September 1948 bis Mai/Juni 1949 tagte.
Er sollte einen auf demokratischen Prinzipen beruhenden politischen Neuanfang für Deutschland einleiten.
Das neue Grundgesetz wurde am 23. Mai 1949 erlassen, trat am 24. Mai 1949 in Kraft und steht ganz im Zeichen seines ersten Artikels:
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.
Ein Gedanke bleibe für den Neuanfang noch zu nennen: Der Fall, den die Deutschen vor 75 Jahren erlebten, konnte nicht tiefer sein, politisch, ökonomisch und moralisch. Umso erstaunlicher, dass unser Land trotz seiner Schuld aufgefangen wurde, von den Europäern, von Nachbarn, über die es so unvorstellbar großes Leid gebracht hatte, von einer Völkerfamilie, die nach diesem Krieg nicht mehr dieselbe war wie zuvor. Diese Bereitschaft unserer Nachbarn zur Versöhnung ist historisch ebenso beispiellos wie die Katastrophe, die ihr vorausgegangen war.
Deshalb sei wiederholt: Der 8. Mai 1945 ist Ende und Anfang zugleich gewesen. Er wirkte befreiend, weil erst das Kriegsende einen Neubeginn ermöglichte, neue Handlungsfreiheiten schuf, um die Zukunft anders und besser zu gestalten.