1938-2021 Geleitwort anlässlich des 83. Jahrestages der Reichspogromnacht am 9. November 1938

von Bürgermeister Professor Dr. Lothar Ungerer 

Zum ehrenden Gedenken an die jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger unserer Stadt,
die in den Jahren der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft zwischen 1933 und 1945 vertrieben oder verschleppt oder ermordet wurden.

Wir erinnern uns am 9.11. der Reichspogromnacht inmitten der Nazi-Diktatur. Mit der Reichskanzlerschaft des Parteivorsitzenden der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) Adolf Hitler im Januar 1933 wurde erstmals in der Geschichte Rassismus und Antisemitismus zum Regierungsprogramm erhoben: Ausgang und Ziel der Weltanschauung und Staatsordnung war die (deutsche) „Volksgemeinschaft“. Bringt man es auf eine einfache Formel, beruhte die Vorstellung Hitlers und seiner Nationalsozialisten darauf, dass Menschen unterschiedlich viel wert seien. Bestimmte Menschen und Menschengruppen wurden als „minderwertig“ eingestuft, verfolgt und ermordet, dazu zählten auch die Menschen jüdischen Glaubens und Abstammung.

Einen entscheidenden Einschnitt in der Judenverfolgung bildete die „Reichskristallnacht“ am 9./10. November 1938. Vorwand für diesen staatlich organisierten Pogrom gegen die Juden in Deutschland vor 83 Jahren bildete das Attentat eines jungen Juden auf einen deutschen Botschaftsangehörigen in Paris.

Die Nationalsozialisten nahmen diese Tat zum Vorwand, um in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 in ganz Deutschland Synagogen in Brand zu stecken, Friedhöfe zu verwüsten, jüdische Wohnungen und Geschäfte zu zerstören, Juden zu töten und zu misshandeln. Verhaftet wurden 27.000 jüdische Männer. Sie wurden in nationalsozialistische Konzentrationslager gesperrt. Allein in das Konzentrationslager Buchenwald wurden 9.815 Männer verbracht, darunter auch die jüdischen Männer Meeranes.

Aus den Akten des Kriminalamtes Chemnitz liegt der Stadt Meerane ein Protokoll vom 18. Januar 1947 über die Befragung eines Herrn E. B. aus Glauchau vor, in dem er seine Mitwirkung an der „Kristallnacht“ zugibt und schildert, wie er mit weiteren Mitwirkenden in Glauchau, Meerane, Mülsen und Oberlungwitz sich an den antijüdischen Aktionen mitbeteiligte. Er schildert die Übergriffe auf die Meeraner Familien Born und Wertheim.

Betroffen waren die Chemische Fabrik Meerane und das Wohnhaus der Familie Wertheim in der Crotenlaider Straße. Der 79jährige Senior-Chef Joseph Wertheim wurde verhaftet. Seine Söhne, Felix Oskar Wertheim (*1895) und Walter Friedrich Wertheim (*1900) wurden in der Pogromnacht ebenso verhaftet und nach Buchenwald verschleppt.

Herr Alfred Born, der sein Bekleidungsgeschäft in der August-Bebel-Straße 63 führte, wurde in der Nacht misshandelt und verhaftet, Laden und Wohnung verwüstet. Auch er kam nach Buchenwald.

Ebenso Herr Georg Salzmann, der sein Schuhgeschäft in der August-Bebel-Straße 53 hatte. Er verstarb am 9.12.1938 an den Folgen seiner zu erduldenden Misshandlungen im Konzentrationslager Buchenwald.

Die Ereignisse vor 83 Jahren zeigen, wie die verbrecherische Nazi-Diktatur im Namen der „Volksgemeinschaft“ ihre radikalen Ziele verwirklichte.
Der 9. November ist als Gedenktag nicht nur ein Tag der Rückbesinnung. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verbinden sich miteinander, um Orientierung zu gewinnen. Orientierung für eine menschliche Zukunft, in der u. a. der Antisemitismus keinen Platz hat.

Das Schicksal der Meeraner Juden mahnt uns: „Sieh hin, und du weißt!“, wie der Philosoph Hans Jonas schreibt. Wer weiß, wie es wirklich gewesen ist, der findet auch den Weg zu dem, wie es sein soll. Wir müssen immer und überall für Frieden, Freiheit, Recht und Würde des einzelnen Menschen eintreten. Denn Freiheit, Recht und Menschenwürde sind die Zeichen der Demokratie.