Geleitwort der Stadt Meerane zum 27. Januar 2018, dem Tag des Gedenkens der Opfer des Nationalsozialismus
Am 27. Januar 1945 hatten Soldaten der Roten Armee die Überlebenden des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz befreit. Am 3. Januar 1996 proklamierte Bundespräsident Roman Herzog den 27. Januar zum „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“. In seiner Proklamation führte der Bundespräsident aus:
„Die Erinnerung darf nicht enden; sie muss auch künftige Generationen zur Wachsamkeit mahnen. Es ist deshalb wichtig, nun eine Form des Erinnerns zu finden, die in die Zukunft wirkt. Sie soll Trauer über Leid und Verlust ausdrücken, dem Gedenken an die Opfer gewidmet sein und jeder Gefahr der Wiederholung entgegenwirken.“
Die Gedanken zum Gedenktag 2018 stehen im Zeichen der Forschungsergebnisse des Historikers Jens-Christian Wagner, der auf die Tatsache hinweist, dass am 27. Januar 1945 Auschwitz zwar befreit wurde, für die meisten Häftlinge Auschwitz jedoch weiterging (vgl. dazu Jens-Christian Wagner: Auschwitz im Harz. 2005.).
Für Jens-Christian Wagner steht der Name des Konzentrationslagers Auschwitz seit dem großen Frankfurter Auschwitz Prozess 1963 bis 1965 nicht nur für den Mord an den europäischen Juden, sondern für die nationalsozialistischen Verbrechen schlechthin. Er blickt mit seinen historischen Studien über den 27. Januar 1945 hinaus.
Zwar hatte der zügige Vormarsch der Roten Armee das Morden im Auschwitzer Lagerkomplex beendet, befreien aber konnten die sowjetischen Soldaten am 27. Januar 1945 nur noch wenig mehr als 8.000 Menschen. Die anderen Häftlinge waren kurz zuvor auf Transporte und Todesmärsche in Richtung Westen geschickt worden. Sie blieben in der Hand ihrer Peiniger.
Das Quälen und Morden fand jetzt nicht mehr in der Ferne, „im Osten“, statt, sondern mitten im Herzen jenes Landes, von dem der Terror und das Verbrechen 1933 ihren Ausgang genommen hatten. Die Tat kehrt dorthin zurück, woher sie gekommen war: in das Zentrum der deutschen Gesellschaft.
Die Räumung des Lagers hatte sich in zwei Etappen vollzogen.
Über 60.000 Häftlinge waren bereits in der zweiten Hälfte des Jahres 1944 als Zwangsarbeiter für die Rüstungsindustrie in das Deutsche Reich deportiert worden, die meisten von ihnen nach Buchenwald bei Weimar, Flossenbürg bei Weiden in der Oberpfalz und Mittelbau-Dora bei Nordhausen am Harz.
Zwischen dem 17. und dem 21. Januar 1944 folgte die zweite Welle der „Evakuierung“, wie die SS die Räumungstransporte und Todesmärsche nannte. 58.000 Häftlinge trieb man in aller Hast zu Fuß über die Straßen, bei Eis und Schnee, ohne Proviant und meist ohne Pausen. Wer nicht mithalten konnte, wurde von den Wachen erschossen. Wahrscheinlich starb jeder Vierte, der von der SS zum Abmarsch gezwungen worden war.
Ein Teil der Häftlinge wurde im Verlauf der „Evakuierung“ in Viehwaggons verladen und ins Reichsinnere verbracht. Viele gelangten nach Mittelbau-Dora. Als bei der Ankunft der ersten Züge Ende Januar 1945 auf der Bahnhofsrampe des Hauptlagers Dora und auf dem Bahnhof in Nordhausen die Türen geöffnet wurden, befanden sich in manchen Waggons nur noch steif gefrorene und tote Menschen.
Als die amerikanische Armee Anfang April 1945 von Westen her sich dem Harz näherte, wiederholte sich, was die Häftlinge aus Auschwitz im Januar 1945 erleiden mussten. In aller Eile und mit großer Brutalität trieben die SS-Wachmannschaften Tausende von Menschen in Richtung Bergen-Belsen, Sachsenhausen und Ravensbrück an der Havel. In der Region nördlich von Magdeburg kam es wiederholt zu Massakern an Häftlingen, deren Todesmärsche in dieser Gegend endeten. Einen brutalen Massenmord begingen SS-Angehörige am 13. April 1945 bei Gardelegen, wenige Stunden vor dem Eintreffen der amerikanischen Armee. In der Isenschnibber Feldscheune verbrannten sie über tausend Häftlinge bei lebendigem Leibe.
1979 beschloss die UNESCO, das Gelände der Gedenkstätten in Auschwitz und Birkenau in die Liste des Weltkulturerbes aufzunehmen. Das Gelände ist für alle Zeiten als Mahnmal für das Martyrium der Völker erhalten. Auschwitz-Birkenau und alle anderen Konzentrationslager sind der Beleg des Grausamen, zu dem der Mensch in einem System fähig ist, das auf Rassismus und Hass gegenüber anderen gründet.
*Jens-Christian Wagner: Auschwitz im Harz. 2005.