Geleitwort anlässlich des 81. Jahrestages der Reichspogromnacht am 9. November 1938

1938-2019

Geleitwort anlässlich des 81. Jahrestages der Reichspogromnacht am 9. November 1938

von Bürgermeister Professor Dr. Lothar Ungerer 

Zum ehrenden Gedenken an die jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger unserer Stadt,
die in den Jahren der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft zwischen 1933 und 1945 vertrieben oder verschleppt oder ermordet wurden.

Wir erinnern uns am 9.11. der Reichspogromnacht inmitten der nationalsozialistischen Diktatur. Mit der Reichskanzlerschaft des Parteivorsitzenden der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) Adolf Hitler im Januar 1933 wurde erstmals in der Geschichte Rassismus und Antisemitismus zum Regierungsprogramm erhoben. Ausgang und Ziel der Weltanschauung und Staatsordnung des Nationalsozialismus war die (deutsche) „Volksgemeinschaft“. Bringt man es auf eine einfache Formel, beruhte die Vorstellung Hitlers und seiner Nationalsozialisten darauf, dass Menschen unterschiedlich viel wert seien. Bestimmte Menschen und Menschengruppen wurden als „minderwertig“ eingestuft, verfolgt und ermordet, dazu zählten auch die Menschen jüdischen Glaubens und Abstammung.

Einen entscheidenden Einschnitt in der Judenverfolgung bildete die „Reichskristallnacht“ am 9./10. November 1938. Vorwand für diesen staatlich organisierten Pogrom gegen die Juden in Deutschland vor 81 Jahren bildete das Attentat eines jungen Juden auf einen deutschen Botschaftsangehörigen in Paris.

Die Nationalsozialisten nahmen diese Tat zum Vorwand, um in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 in ganz Deutschland Synagogen in Brand zu stecken, Friedhöfe zu verwüsten, jüdische Wohnungen und Geschäfte zu zerstören, Juden zu töten und zu misshandeln. Verhaftet werden 27.000 jüdische Männer. Sie werden in nationalsozialistische Konzentrationslager gesperrt. Davon wurden  allein 9.815 Männer in das Konzentrationslager Buchenwald eingeliefert, darunter auch die jüdischen Männer Meeranes.
Die Verhaftungen wurden ohne Rücksicht auf das Alter durchgeführt. Dazu Eugen Kogon*: „Neben zehnjährigen Knaben sah man siebzig- bis achtzigjährige Greise. Schon auf dem Weg vom Bahnhof Weimar bis nach Buchenwald wurden alle Zurückgebliebenen abgeschossen, die Überlebenden gezwungen, die oft blutüberströmten Leichen ins Lager mitzuschleppen. Am Tor stauten sich die Massen – immer je 1.000 kamen zugleich an -, weil von der SS nicht das große Gittertor, sondern nur ein kleiner Durchgang für je einen Mann geöffnet wurde. Neben diesem Durchgang standen die Blockführer und schlugen mit eisernen Ruten, Peitschen und Knüppeln auf die Leute ein, so dass buchstäblich jeder neuangekommene Jude Wunden hatte.“

Buchenwald war ein Ort, an dem die Menschen systematisch ihrer Würde beraubt wurden, wo die üblichen Normen der bürgerlichen Gesellschaft nicht mehr galten. Die Wirklichkeit war Willkür, Schikane, Mord. Buchenwald war als Konzentrationslager ein „Dschungel der Verwilderung“, wie es Eugen Kogon beschreibt.

Aus den Akten des Kriminalamtes Chemnitz liegt der Stadt Meerane ein Protokoll vom 18. Januar 1947 über die Befragung eines Herrn E. B. aus Glauchau vor, in dem er seine Mitwirkung an der „Kristallnacht“ zugibt und schildert, wie er mit weiteren Mitwirkenden in Glauchau, Meerane, Mülsen und Oberlungwitz sich an den antijüdischen Aktionen mitbeteiligt. Er schildert die Übergriffe auf die Meeraner Familien Born und Wertheim.

Betroffen waren die Chemische Fabrik Meerane und das Wohnhaus der Familie Wertheim in der Crotenlaider Straße. Der 79jährige Senior-Chef Joseph Wertheim wurde verhaftet. Seine Söhne, Felix Oskar Wertheim (*1895) und Walter Friedrich Wertheim (*1900) wurden in der Pogromnacht ebenso verhaftet und nach Buchenwald verschleppt.

Herr Alfred Born, der sein Bekleidungsgeschäft in der August-Bebel-Straße 63 führte, wurde in der Nacht misshandelt und verhaftet. Laden und Wohnung verwüstet. Auch er kam nach Buchenwald.

Ebenso Herr Georg Salzmann, der sein Schuhgeschäft in der August-Bebel-Straße 53 hatte. Er verstarb am 9.12.1938 an den Folgen seiner zu erduldenden Misshandlungen im Konzentrationslager Buchenwald.

Die Ereignisse vor 81 Jahren zeigen, wie die nationalsozialistische Diktatur und Gewaltpolitik im Namen der „Volksgemeinschaft“ ihre radikalen Ziele verwirklichte. Der 9. November ist als Gedenktag nicht nur ein Tag der Rückbesinnung. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verbinden sich miteinander, um Orientierung zu gewinnen. Orientierung für eine menschliche Zukunft, in der u. a. der Antisemitismus keinen Platz hat.

Das Schicksal der Meeraner Juden mahnt uns: „Sieh hin, und du weißt!“, wie der Philosoph Hans Jonas schreibt. Dieser Gedanke von Hans Jonas hat für mich folgenden Sinn. Wer weiß, wie es wirklich gewesen ist, der findet auch den Weg zu dem, wie es sein soll. Und das bedeutet konkret nach der verbrecherischen Politik der Nationalsozialisten: Wir müssen immer und überall für Frieden, Freiheit, Recht und Würde des einzelnen Menschen eintreten. Denn Freiheit, Recht und Menschenwürde sind die Zeichen der Demokratie.  

*Entnommen aus: Eugen Kogon. Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager. 1. Auflage 1945. Seite 229 folgende. Buchenwald war im April 1945 das erste große Konzentrationslager, das unzerstört in die Hände der westalliierten Truppen (3. US-Armee) gefallen war. Eugen Kogon, Buchenwald-Häftling, fertigte für die Alliierten einen Bericht an, der das System der Konzentrationslager am Einzelfall Buchenwald objektiv dokumentiert.